Organspende-Show: TV schlecht - Zeitung gut?
Endemol (u. a. Big Brother) und Reality- TV Shows werden verteufelt und die Printmedien setzen sich 'mal eben auf den politisch korrekten Papst-Thron moralischer Entrüstung. Eine Geschmacklosigkeit! hallte es durch den Blätterwald. Man wartete eigentlich darauf, dass einer "April, April!" ruft - denn moralische Entrüstung verlangt, um glaubhaft zu sein, nach eigener Unbeflecktheit. Der niederländische Sender BNN übertrug "De grote Donor Show" (Die große Spendershow) trotz heftiger Diskussionen und europaweiter Entrüstung, die die Ankündigung der Reality-Show ausgelöst hatte. Eine todranke Nierenspenderin will unter drei Dialysepatienten den zukünftigen Besitzer ihres Organs auswählen - und die Zuschauer voten mit? Das geht ja mal gar nicht, wo kämen wir denn da hin? Ein entmystifizieren des Zuteilungsprozesses ist nicht erwünscht. Nach der Show fahren die Printmedien unverständlicherweise auf der Empörungs-Schiene weiter - ohne mal die eigene überheblich-heuchlerische Position zu checken.
Die drei Kandidaten sind tatsächlich auf Organspenden wartende Dialysepatienten
Im Nachhinein nun, da man weiß, dass die Protagonistin der Reality Show keinen inoperablen Hirntumor hat, sondern eine sich hoffentlich bester Gesundheit erfreuende Schauspielerin ist, empört sich die Presse darüber, dass "nur die drei Kranken echt waren" (Spiegel online, z. B.). Spiegel headlined "Fernsehsender foppt die Welt" und geht in dem Artikel so weit, die Sendung als "den Scherz" zu bezeichnen. BILD schreit: Skandal! "Alles nur inszeniert!" Die Rheinische Post online hat gar die Nerven, diese geschmackloseste aller Headlines zu erschaffen: "Organspende-Show war ein Scherz". Der Humor, den die Rheinische Post und die Spiegel online Redaktion in der Show sehen, ist nicht nachzuvollziehen. Die Angehörigen des verstorbenen BNN-Gründers Bart de Graaf, der vergeblich auf eine Spenderniere gewartet hatte, haben bestimmt nicht gelacht.
Die Dialyse-Patienten und die Macher der Show haben ein Anliegen, das sie auf effektive Weise den Zuschauern nahebringen wollten - via Provokation. Vermutlich ist ihnen das gelungen.
Die Presse hoch zu Ross - Moment mal, wie steht's um die Moral in den Medien?
Das immer wieder angeführte Argument, Endemol würde mit der Show menschliches Leid zu kommerziellen Zwecken (aus)nutzen und dass das absolut verwerflich sei, lässt den Leser - ganz generell betrachtet - zynisch auflachen. Bitte? Hab' ich mich eben verhört? Das kann ja wohl gar nicht sein, isses wirklich nicht der 1. April?
Wenn menschliches Leid nicht mehr in bare Münze umgewandelt werden kann, dann kommen dünne Zeitungen und Zeitschriften auf uns zu.
Es ist jedem klar, dass ohne "menschlichen Bezug", ohne Aufhänger mit eindringlichem Einzelschicksal, viele Artikel bei den Lesern nicht ankämen. Deshalb werden täglich Tausende von Menschen, die in irgendeiner Form leiden dazu missbraucht, Zeitungen und Zeitschriften zu verkaufen. Da werden Fotos von Toten oder Sterbenden gebracht, oder es wird in den Texten über private Details leidender Menschen geschrieben. Meist sind das Durchschnittsbürger, oft auch Promis, über deren Krankheiten man lacht oder den Kopf schüttelt. Das verkauft Copy, das treibt die Quoten hoch. Es verkauft auch andere Produkte gut, z. B. Versicherungen. Wasauchimmer.
Zeitungen und TV stehen sich in nichts nach, wenn's darum geht, menschliches Leid auszunutzen. Gerade jetzt ist es sehr trendy das zu tun - denn nur wenn man es tut, kann man seine Wohltätigkeits-Stories bauen. Nur wenn man es tut, kann man Engel zu den Armen schicken oder Geld nach Afrika. Die ach so empörten Printmedien wissen das sehr genau, weshalb man diesen ganzen Empörungs-Shtick nur als dreist bezeichnen kann.
Schreibt doch AIDS-Artikel ohne Einzelschicksale, berichtet über Kindesentführung ohne die Angehörigen zu zitieren oder Fotos zu bringen, streicht alle Artikel über die Drogen- oder Alkoholsüchte der Promis. Bemitleidenswerte Opfer von Schönheits-OPs? Gestrichen. Politiker und Sportler, die fremdgehen und dabei auch noch Babies machen? Zensiert. Übertragungen bzw. Berichterstattung über Beerdigungen? Na-ah. All das gehört wohl künftig der Vergangenheit an, da unsere Medien sich nie nicht auf Endemol-Niveau begeben würden. Da bin ich aber froh. Ab sofort sind die News in Null komma nix gelesen. Wow.
Zur Organspende bzw. der Zuteilung verfügbarer Spenderorgane
Grey's Anatomy Fans haben sicherlich noch die Umstände des Todes von Danny in Erinnerung. Sie wissen, dass sich die Ethik in dem Moment längst verabschiedet hat, wenn andere Faktoren als die reine medizinische Indikation und der Leidensgrad des Patienten als Vergabekriterium ausschlaggebend sind. In dem Moment wird ein Leben bewertet und plötzlich sind nicht alle Menschen gleich. Wer das für ethisch vertretbar hält, der sollte mit der Organspende-Show schon vor der Übertragung keine Probleme gehabt haben. Es hat doch was, wenn wenigstens der Spender für die Auswahl des "lebenswerten" Empfängers verantwortlich ist und nicht ein Gott-gleicher Kittelträger irgendwelche zusätzlichen Vergabekriterien checkt.
Für mich macht eine Spender-Auswahl des Empfängers nicht weniger Sinn als die geheime Vergabepraxis derzeit. Vielleicht liegt es ja gerade daran, dass nicht genug Leute sich zur Spende aufraffen können.
Nebenbei bemerkt
Ich finde die Idee hinter der Endemol Reality-Show super. Das Set-up erinnert leicht an die Werbung für den Sci-Fi Thriller Gattaca. Damals wurde Werbung geschaltet, die suggerierte, dass Paare im Vorhinein das Geschlecht ihrer Nachkommenschaft bestimmen könnten. Es wurde eine 0800 Nummer zur Info-Hotline angegeben. Ich sach nur: Viele Menschen riefen diese Hotline an. Und: Der Sci-Fi Thriller hat einen Bezug zum Wunschdenken der Menschen, hatte aber zu dem Zeitpunkt noch keine Basis in der Realität. Heutzutage sind solche Sachen an der Tagesordnung.
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